Flieg, Dorjan, flieg!

 In den Tagen nach Dorjans Tod schrieb ich mir die erste Trauer vom Herzen. Einfach im Himmel konnte ich ihn nicht sehen, er brauchte etwas anderes, eine besondere Note. Die Bestatterin warnte mich, ich könnte es womöglich emotional nicht bewältigen, die Grabrede selbst zu halten, aber ich bestand darauf: Ich hatte sie für meine Mutter gehalten und mein Sohn hatte es genau so verdient!

So machte ich meinem Kummer in der folgenden Geschichte Luft:
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Ein langes Leben hat Dorjan nicht bekommen, auch wenn es viel länger dauerte, als manche Ärzte erwartet hatten. Und er ging so unerwartet, wie er gekommen war – zu früh. Aber nicht in Kummer und Leid. Denn Dorjan war gerne am Leben, er nahm mit Vergnügen an unserem Teil und erfreute uns mit seiner Zuversicht. Die hat er sich bis in die letzten Stunden bewahrt, als er zu Bett ging und dachte, er werde einfach erholt wieder aufwachen und sich in den Online-Unterricht einschalten. Warum ist er so schnell von uns gegangen?
Vielleicht hat er ein besseres Angebot bekommen?
Denn ausgerechnet Dorjan, er, der kaum gerade stehen konnte, begeisterte sich für Profisport. Seine Idole hießen Manuel Neuer und Robert Lewandowski, er fieberte mit Primož Roglič um das gelbe Trikot der Tour de France und freute sich in jedem Herbst auf die Wintersportsaison. Vor allem das Skispringen hatte es ihm angetan. Hier waren seine Helden vor allem die drei Prevc-Brüder aus dem slowenischen Team. Einer der schönsten Tage in Dorjans Leben war es, als ich einmal mit ihm zum Skifliegen in Planica ging. Damals kam sogar einer zu uns auf die Tribüne, nämlich der jüngste Prevc, Domen, der so alt war wie Dorjan, und ließ sich mit ihm fotografieren. Dorjan behielt das Bild danach stets als Hintergrund auf seinem Laptop.
Er wusste Bescheid über das Skispringen und kannte die Einzelheiten jeder Schanze. Aber erst jetzt hat er auch die Nebesnica kennengelernt. Kennt ihr, kennen Sie, die Nebesnica? Manche nennen sie auch den Himmelssprung. Die Nebesnica ist die höchste und längste Skiflugschanze des Universums: Der Schanzenrekord liegt bei 400 m! Das ist noch viel weiter, als man auf den weltgrößten Schanzen in Wykersund oder Planica springen kann. Und an der Nebesnica gibt es eine Mannschaft, die wird seit letztem Jahr von Martti Nykänen trainiert. Seine Fans sagen, er sei der größte Skispringer aller Zeiten gewesen. Aber das stimmt nicht mehr. Jetzt hat er sich einen größeren geholt.
Es ist noch nicht lange her, da saß Martti Nykänen mit meinem Großvater zusammen – der war nämlich Sportreporter gewesen -, und sagte, er habe da ein Problem: Die Leute, mit denen ich arbeite, sind seien alle zu Zeiten gesprungen, als die Rekorde so um die 100 Meter lagen, und sie bringen auf der Nebesnica einfach nicht die Leistung, die ich brauche. Können Sie nicht einen empfehlen, der die Willenskraft und die unermüdliche Zuversicht hat, diese Riesenschanze zu meistern?“
Da überlegte mein Großvater eine Weile, und am Ende sagte er: „Da fällt mir nur einer ein: mein Urenkel Dorjan. Wenn einer die Nebesnica schafft, dann er!“
Als Dorjan also am 3. Dezember im Bett lag, kam Martti Nykänen im Traum zu ihm und bot ihm einen Vertrag an. Den unterschrieb er sofort, und gleich ging er mit. Jetzt trainiert er also in Nykänens Mannschaft für den Himmelssprung. Und wenn ihr, wenn Sie, eines Tages an die Nebesnica kommen, dann schaut doch mal bei Dorjan vorbei. Er hat jetzt eine große Glasvitrine, die ihm sein Urgroßvater gestiftet hat, und die möchte er euch zeigen. Dort kommen nämlich all die Goldenen Adler hinein, die er gewinnt.

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