Meine letzte Woche (6)

2. Dezember, heute vor genau einem Jahr - Dorjans letzter Tag:

Am frühen Morgen klingelte mich Dorjan per Handy dreimal aus seinem Bett an, was für ihn völlig ungewöhnlich war. Das erste Mal klagte er über Atemnot, und ich riet ihm, sich lang auszustrecken und ruhig zu atmen, meiner Meinung nach war die starke Skoliose schuld. Das zweite Mal wollte er einen kalten Umschlag haben, weil er so einen Druckschmerz im Nacken habe. Den bekam er - und ich brachte die beiden Symptome im Kopf nicht miteinander in Verbindung, denn Nackensteife war bei ihm sowieso keineswegs neu. Das dritte Mal wollte er dann ins Wohnzimmer kommen.


Seine Atemnot hatte sich im Vergleich zum Vortag deutlich verschlimmert: Er konnte nicht mehr aufrecht sitzen, warf sich sofort auf den Boden, um nach Luft zu schnappen, und auch auf dem Sofa fand er es nur noch in Bauchlage erträglich. Abermals verlangte er nach einem Coronatest, und ich konnte ihn nur vertrösten. Dies entsprach aber nicht seinen altbekannten "Episoden", die mit Kopf- oder Nackenschmerz und Apathie einhergingen: Dorjan aß an diesem Tag wenig, aber blieb geistig aktiv, und als mir mittags einfiel, dass er ja die Zugangsdaten zum Online-Unterricht hatte, half ich ihm, sich in seine Mathevorlesungen einzuschalten, an denen er bis zum Nachmittag teilnahm, ohne dass jemandem etwas Besonderes an ihm auffiel.

Abends verschlechterte sich sein Zustand weiter. Irgendwann fragte er, ob ich inzwischen irgendwo angerufen hätte, damit ihn jemand teste: "Hoffentlich hab ich kein Corona!", sagte er, "Ich will noch nicht ins Grab." Wir versicherten ihm, dass er keines der typischen Symptome zeige, und wir sollten einfach die Nacht abwarten. Insgeheim begann ich aber zum ersten Mal, darüber nachzudenken, ob ich den Notarzt rufen sollte. Meiner Meinung nach bekam Dorjan so schlecht Atem, weil sich durch das tagelange Herumliegen in Quarantäne seine Luftröhre mit verhärtetem Schleim zugesetzt hatte, den er nicht mehr aushusten konnte und der abgesaugt gehörte: Sein bekanntes schmerzhaftes Aushusten von Schleimbrocken hatte in den letzten Tagen völlig aufgehört.

Das war eine satte Fehldiagnose, aber sie bewog mich, auf den Notarzt zu verzichten. Die Nachtschicht wäre wohl nicht zur Soforthilfe in der Lage, sagte ich mir, sondern würde ihn in die Klinik transportieren - und dann, so hatte ich es vor Augen, dürften wir wegen dieses gottverdammten Corona-Besuchsverbots nicht mehr zu ihm. Deswegen sollten wir lieber noch die Nacht abwarten, beschloss ich: Entweder ginge es ihm bis dahin besser, bisher war es ihm ja immer schnell wieder besser gegangen, wenn er Probleme hatte, oder wir riefen dann eben die Tagschicht, die ihn hoffentlich auch ambulant behandeln könnte.

Um Dorjan zu beruhigen, maß meine Frau sein Fieber, er hatte keines, wollte seinen Blutdruck messen, aber alle drei Geräte lieferten bei ihm nur Fehlermeldungen. Sie funktionierten dagegen bei uns, und Dorjan fand unsere Unfähigkeit, ihn korrekt zu messen, sehr lustig. Außerdem waren seine Beine eiskalt, obwohl er direkt am Heizkörper lag. Er fragte, ob er ausnahmsweise auf dem Sofa schlafen dürfe, damit er uns rufen könne, falls es ihm in der Nacht noch schlechter ginge. Meine Frau gewährte es ihm, ich gab nur zu bedenken, dass wir ihn sicherlich stören würden, denn wir pflegen sehr spät ins Bett zu gehen.

Gegen 22:00 Uhr rief er in seinem Internat an, um dem Betreuer der Nachmittagsschicht, den er gerade noch im Aufbruch abpasste, sein Leid zu klagen. "Heute geht es mir nicht ganz so gut", meinte er schlicht, und nach einigem Smalltalk äußerte er, dass er alle dort vermisse und wie er sich darauf freue, endlich die Quarantäne zu verlassen. Eine kurze Weile nach dem Gespräch setzte Schnappatmung bei ihm ein; ich riet ihm, langsam und ruhig zu atmen, und er bekam das wieder in den Griff.

Es war so um 22:30 Uhr, dass er mit einem Mal sagte: "Ich habe es mir überlegt: Ich möchte jetzt doch in mein Bett. Ich fühl mich jetzt völlig hundemüde." - "Das ist der Sauerstoffmangel", meinte ich, und zum ersten Mal ahnte ich, dass da etwas Furchtbares im Anzug sein könnte. Abermals dachte ich an den Notarzt und abermals schreckte ich davor zurück wegen des Besuchsverbots ... Er trank seine große Teetasse aus, durchaus mit eigener Kraft, jeder von uns nahm ihn unter einem Arm, um ihn in sein Zimmer zu geleiten, doch als ich ihn ansah, fand ich meine Befürchtung untermauert: So einen Gesichtsausdruck hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Er sah dermaßen am Ende aus, dass ich mich wunderte, wie er überhaupt noch einen Fuß vor den andern setzen konnte; ich rechnete geradezu damit, er würde uns zusammenklappen und wir müssten ihn hinüber schleifen.

Doch tapfer hielt er bis zu seinem Bett durch; und als Dorjan endlich drinnen lag - bequem auf dem Bauch - und meine Frau noch mit ihm redete, da sah ich etwas, was sie aus ihrer Position nicht wahrnehmen konnte. Mit einem Mal lag er mit weit aufgerissenen Augen da wie ein erschossenes Kaninchen und war nicht mehr ansprechbar. Und in diesem Moment schoss mir der Gedanke durch den Kopf: "Das war's. Jetzt geht er." Aber dann fuhr er wieder hoch und starrte verständnislos um sich, und ich redete mir erleichtert ein, dass ich wieder einmal zu schwarz sähe, diese Tendenz habe ich eben. Diese Ausfälle wiederholten sich noch zweimal in kurzen Abständen, dann lag er endlich friedlich da und wollte nur noch schlafen. Meine Frau strich ihm über den Kopf, versprach ihm, wir würden jetzt einen Film anschauen gehen und danach noch einmal nach ihm sehen. Das Letzte, was wir von Dorjan sahen, als wir sein Zimmer verließen, war sein vertrauensvolles Lächeln.

Ich begreife bis heute nicht, warum ich es SAH und trotzdem keine Hilfe rief. Ich nahm einfach zur Kenntnis, dass er im Begriff war, uns zu verlassen, als hätte ich ihn in meinem Herzen schon abgeschrieben. Dummheit? Egoismus? Einfach nur Unglauben, dass uns das passieren könnte?

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